Wenn der Fahrtwind für immer abflaut

Selbstversorgerfahrten sind ein großes Abenteuer. Man weiß nicht, was auf dem nächsten Meter passiert. Selten ist klar, welche Entscheidung in der jeweiligen Situation die richtige ist. Man startet zur Grenzsteintrophy, zur Tour Divide oder zum Arizona Trail Race mit Respekt, dem Gefühl zu Großem im Stande zu sein und der Gewissheit, dass die Dinge ihre eigene Dramaturgie entwickeln werden … jeder Meter birgt Risiken und Chancen. Jeder Meter bringt einen weiter dem Ziel entgegen. Und bei manchem Meter kommt auch das Bewusstsein ein Stück weiter.

Meist sind es diese Momente, die einem in Erinnerung bleiben; die Lohn für die Strapatzen sind; die einen weiter pedalieren lassen. Der Fahrtwind bläst die Sorgen weg. Der Fahrtwind kühlt den Kopf, der vom Alltagsstress glühend heiß geworden. Dieses Ultimative jeden Momentes macht den Reiz der Selbstversorgerfahrten aus. Dass der Reiz nicht als Gefahr/Risiko wahr genommen wird, liegt in einer ureigenen Selbstsicherheit begründet: Man stellt vielleicht das Angekommen im Ziel in Frage; nicht aber die eigene Existenz. Man ist sicher, dass man den Fahrtwind auch nach dem Ziel spürt; dass man weiter rollert durchs Leben und bei nächster Gelegenheit wieder beherzt ins Pedal treten kann. Es ist eine fast kindliche Naivität oder Selbstverliebtheit, die Risiken zum Reiz verklärt. Doch erst dieser Selbstbetrug ermöglicht das „Unmögliche“.

Als die Meldung über einen Mountainbiker, der vier Tage im Harz vermisst wurde und schließlich mit Knochenbrüchen und anderen Verletzungen in der Tiefe einer Schlucht gefunden wurde, über den „Äther“ ging… machte sich ein mulmiges Gefühl unter den GST-Sportlern breit: „Das hätte mir auch passieren können!“ Das Risiko verliert für einen Moment seine reizvolle Maskerade …

„Glück gehabt!“ möchte man ausrufen. Doch in solchen Momenten gilt es auch inne zu halten und derer zu gedenken, deren Fahrtwind für immer abgeflaut ist. Dave Blumenthal startete mit 47 anderen Fahrern am 10. Juni zur „Tour Divide“. Am 23. Juni hatte Dave in Colorado einen Unfall mit einem Auto. Am 24. Juni verstarb er in Denver an den Folgen des Unfalls. Er hinterlässt eine Frau und eine vierjährige Tochter.

Nein, nicht dass ich Dave persönlich gekannt hätte. Nicht, dass ich je einen Meter neben ihm geradelt bin. Nicht, dass ich seinen Blog je las. Und dennoch verbindet mich viel mit ihm. Wie wohl mit jedem, der je auf eine Selbstversorgerfahrt gestartet ist. Ganz egal, was für ein Mensch Dave war. Ganz egal, wie „gut“ er Rad fuhr. Ganz egal, welche Ambitionen er auf der Strecke verfolgte. Es ist das Risiko, das uns verbunden hat. Nenne es „Selbstverwirklichung“ oder „unnötiges Risiko im Sport“; nenne es „den Reiz des Lebens“ oder nenne es schlicht „Leben 1.0“. Wer in Fahrt ist, der kann auch endgültig ausgebremst werden. Das sollte man stets im Blick haben … wenn man erneut startet. Denn es ist kein Grund, eine Fahrt nicht zu starten; es ist der Grund, besonnen zu fahren. Auf dem Track wie im (restlichen) Leben!

Unser Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen! Unsere Vorsicht gilt dem nächsten Meter, stets könnte es der letzte sein!

GuF

4 Comments

  1. Walter Donnerstag, der 1. Juli 2010 at 08:38

    Hallo Gunnar,
    sehr schön, der Artikel.
    Du sprichst damit wirklich Leuten aus der Seele, für die das Radfahren ein bißchen mehr ist als nur in die Pedale treten oder weils vielleicht gerade trendy ist.

    In diesem Sinne: Freu mich schon auf die GST 2011.
    Wird Zeit, daß Du eine Kategorie „Teilnehmer 2011“ eröffnest :-)

    Reply
  2. Hajo Dienstag, der 6. Juli 2010 at 08:18

    Moin, moin Gunnar, ich freue mich über deine Besinnung!
    Ist doch alles, was wir haben, ein Geschenk: Unversehrtheit, Wetter, aber auch Krankheit und Schwäche. Gerade die beiden letzten können – wie jemand gesagt hat – als ein Höflichkeitsbesuch des Todes verstanden werden!
    Oder wie schon der Psalmist ausruft: „Gott, lehre uns bedenken, das wir sterben müssen, auf das wir klug werden!“
    Diese Klugheit für das tägliche Leben ist uns allen zu wünschen!
    Hajo

    Reply
  3. Phillip Freitag, der 16. Juli 2010 at 07:02

    Hi Gunnar,

    Echt schön was du geschrieben hast über Dave B. Ich hätte das glück ihm kennenzulernen ein tag vor der TDR in Banff. Eine sehr nette mensch!

    Phil

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  4. Pingback: Blue Dots turn into tears: Ride in Peace, Mike! – overnighter

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